Das schlechte Gewissen
Martin ist bei der Kfz-Zulassungstelle und wartet darauf, sein neues Kfz-Kennzeichen zu bekommen. Nach einer Weile wird er aufgerufen und begibt sich zum Schalter. Alles klar. Er nimmt es in Empfang und verschwindet zum Auto.
Einige Wochen später. Unser Bürotelefon klingelt. Am anderen Ende eine etwas verstörte Stimme. "Ich hatte vor einiger Zeit einen Unfall und bin nun angeklagt wegen fahrlässiger Tötung". Der Anrufer, Martin, hatte beim Wenden mit seinem Pkw offensichtlich ein Motorrad übersehen. Schlimme Sache, oder hatte er gar keine Chance, den Unfall zu verhindern?
Nach dem Motto: "Probieren geht über Studieren" ging es trotz Protest des Anrufers mit ihm zusammen an die Unfallstelle. Eigentlich wollte er diesen Ort nie wieder befahren. Die Anklage stützte sich auf ein Gutachten eines Kollegen. Der ging allerdings von einer anderen Kollisionskonstellation aus, als die Spuren vom Unfallort hergaben. Dabei fiel ihm offensichtlich nicht auf, dass der Pkw ab dem Bereich vom Beginn der Seitenscheibe nach oben hin nicht beschädigt war. Seine Variante konnte also nicht stimmen, denn dann hätten auch im oberen Bereich des Pkw Schäden zu sehen sein müssen, da der Kradfahrer dort unweigerlich Spuren hinterlassen hätte.
Am Unfallort angekommen haben wir zunächst die Spurenlage entsprechend den Polizeifotos nachskizziert. Die Unfallaufnahme war dieses Mal super dokumentiert, was leider nicht selbstverständlich ist. Dem Angeklagten war nicht wohl zumute. Es kam alles wieder hoch. Der Kradfahrer, wie er regungslos auf dem Boden lag. Er zitterte am ganzen Körper. Am liebsten wäre er sofort abgehauen und wollte den Ort seiner Albträume nie wieder betreten.
Aber, es half nichts. Ich musste heraus finden, ob er den Unfall tatsächlich vermeiden konnte oder nicht, denn darauf stütze sich die Anklage. Also ging es los mit den Fahrversuchen. Erster Versuch: Er überfährt beim Wenden die skizzierte Spur. Ok. So konnte es nicht sein. Zweiter Versuch: Dieses Mal war er zuweit von der Spur entfernt. So also auch nicht. Nach fünf weiteren Versuchen endlich der tatsächliche Fahrverlauf.
Sein Anwalt nahm mich mit zur mündlichen Verhandlung. Diese begann pünktlich. Die Staatsanwältin las ihre Anklageschrift vor, der Verteidiger hielt dagegen. Dann wurde der Gutachter von der Staatsanwaltschaft gehört. Anschließend gab es eine Fragerunde.Das war dann mein Part. Ich zeigte meine Fahrversuche und die Erkenntnisse aufgrund der Spurenlage. der Gutachterkollege schaute nicht schlecht. Er musste selbst einsehen, dass er bei der Betrachtung des Unfalls wohl doch etwas entscheidenes übersehen hatte. Die Staatsanwältin sah ihre Anklagebasis davon schwimmen, was man unschwer an ihrem veränderten Gesichtsausdruck ablesen konnte.
Am Schluss sagte der Richter zu Martin: "Eigentlich müßte ich sie frei sprechen. Ich kann Sie aber nicht so gehen lassen, deshalb bekommen Sie eine kleine Geldstrafe." Kein gutes Beispiel für gerechte Justiz. Aber, der Angeklagte gab sich damit zufrieden und akzeptierte die kleine Geldstrafe. Denn obwohl er wirklich keine Chance hatte, den Unfall zu vermeiden, fühlte er sich doch irgenwie schuldig.
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